Service versus Servilität

Der Maître ist Chef und Diener in Einem. Ein scheinbarer Widerspruch, der einiges über unsere Zeit aussagt. Dienen hat heute den Ruch des Unterwürfigen oder Servilen. Über Literatur und Filme wird dies in die Köpfe unserer Zeitgenossen gesetzt und verfestigt. Gerade weil dieses Bild aus einer Zeit herrührt, in der es noch Untertanen und Herrscher gab, sehen wir Dienen als etwas an, das dem modernen Menschen entgegensteht. Dienen in seiner althergebrachten Bedeutung hält auch keinen Platz für Individualität bereit. Ich diene jemandem oder etwas. Dabei ist eine Umdeutung des Wortes gar nicht notwendig um zu einem positiven Verhältnis zu ihm zu gelangen. Man muss sich einfach nur vergegenwärtigen, was die Grundvoraussetzung für eine komplexe Gesellschaft darstellt. Sie kann nur funktionieren, in dem Zusammenwirken verschiedenster Teilbereiche, die von Spezialisten besetzt werden. Ich beauftrage einen Handwerker mit der Durchführung von Tätigkeiten, die ich zeitlich oder von meiner Geschicklichkeit her nicht ausführen kann oder mag. Je geschickter und engagierter ein solcher Spezialist ist, desto spezifizierter kann sein Aufgabenfeld werden. Die Grenze zwischen Chef und Diener ist hier fliessend, bis nicht existent.

Pathos = Leidenschaft

"Mit dezenter vornehmer Brillanz heißt er jeden Gast am Eingang willkommen. Er gibt dem Fest das jubilierend Festliche, in dem er die Gäste mit verhaltender Finesse, geprägt von einem raffinierten Understatement adelt. Beschwingt und mit einer gewissen höflichen Strenge führt er durch den Abend. Hier noch einen guten Wein empfehlend, dort schon eine einsame Greisin zum Tanze bittend. Elegant und animierend kümmert er sich um seine Gäste. Mit superber Noblesse begrüßt er seine Ehrengäste auf der Bühne.
Le Maitre, ein Kavalier der alten Schule, ein Gentleman und dennoch ein Dienender im Hier und Jetzt. Jeder Gast ist ihm ein Gott, um dessen Gunst er sich müht. Ein gelungenes Fest ist ihm Lohn genug."

- (Mit diesem Text überraschte mich vor Kurzem ein Kollege, der mit seinen komödiantischen Figuren dem Maître Widerpart und Kompagnon geworden ist. Eine solche Charakterisierung ist mir nicht zuletzt deshalb so wertvoll, weil sie aus einem gemeinsamen Innen, sozusagen aus unmittelbarem Erleben heraus entstand.)

Eine Seele in meiner Brust

Reiner Scharlowsky ist nicht der Maître und der Maître nicht Reiner Scharlowsky. Im Gegensatz zum Schauspieler, der versucht eine Rolle in all seinen psychologischen Fassetten zu verkörpern, geht der Komödiant einen anderen Weg. Wenige signifikante Merkmale reichen ihm aus, um eine lebendige Figur zu schaffen. Diese sind damit aber nicht weniger authentisch. Im Gegenteil: Durch die Reduktion auf wenige fast schon klischeehafte Charakterzüge ist der Künstler, der hinter der Figur steckt, schneller in der Lage auf Situationen und Einflüsse zu reagieren. Neben dem, was er sich für die Bühne vorgenommen hat, muss er stets alle Sinne für die Situation um ihn herum geöffnet halten. Deshalb darf und muss er neben dem Bühnengeschehen ein offenes Ohr für seine Zuschauer haben. Anders: Der Charakter des Maître besteht aus vielleicht 5% der Eigenschaften die Reiner Scharlowsky ausmachen. Diese 5% füllen den Maître allerdings hundertprozentig aus.
Das größte Lob, dass man dem Künstler Scharlowsky aussprechen kann, ist, sich mit ihm nach einer Show an der Bar über den Moderator zu unterhalten, ohne zu realisieren, dass dieser gerade sein Gesprächspartner ist.